Als junger Kaplan nahm ich einmal an einer Fortbildung für Erlebnispädagogik teil. Zu deren theoretischen Grundlagen gehörte das sogenannte Drei-Zonen-Modell. In diesem Modell wurde davon ausgegangen, dass Menschen von sich aus dazu neigen, sich in einer Komfortzone einzurichten, d.h. sich die Umgebung so zu gestalten, dass sie möglichst nur Situationen ausgesetzt sind, die ihnen vertraut sind und mit denen sie gut zurechtkommen. Das Bedürfnis nach Sicherheit und auch eine gewisse Bequemlichkeit sorgen dafür, dass Menschen sich nur schwer aus dieser Komfortzone herausbringen lassen. Das Problem ist allerdings, dass Menschen in ihren Komfortzonen nichts Neues mehr lernen. Sie nehmen körperlich, geistig und geistlich gewissermaßen eine Schonhaltung ein, durch die sie sich Schmerzen der Veränderung ersparen.
Aufgabe der Erlebnispädagogischen Übungen war es nun, die Jugendlichen aus ihrer Komfortzone in eine Lernzone zu bringen, zum Beispiel indem man sie gemeinsam einen Hindernis-Parkour mit verschiedenen zu lösenden Aufgaben durchlaufen ließ. Dadurch, dass die jungen Leute vor Herausforderungen gestellt waren, mussten sie neu über sich und ihr Handeln nachdenken und besonders gut auf ihre Mitstreiter*innen und ihre Umgebung achten. Genau auf diese Weise aber konnten sie sich zum Beispiel neue kooperative Verhaltensweisen aneignen.
Es war schon in Ordnung, wenn die Jugendlichen beim Lösen der Aufgaben etwas Herzklopfen hatten oder ins Schwitzen kamen. Wichtig war jedoch, die Übenden davor zu bewahren, aus der Lernzone in eine Panikzone abzurutschen. Eine solche Panikzone ist dann erreicht, wenn die jungen Leute nicht mehr herausgefordert, sondern überfordert werden und sich Situationen ausgeliefert sehen, die sie nicht mehr beherrschen können. Insofern mussten die erlebnispädagogischen Übungen so gestaltet sein, dass die Beteiligten mit etwas Geschick die Aufgaben realistischerweise auch bewältigen konnten.
Im heutigen Evangelium fordert Jesus die Seinen damals und uns heute zur Feindesliebe auf (vgl. Mt 5,44). Damit reißt er uns unsanft aus unserer Komfortzone. Es ist schon schwer, unseren Freund*innen gerecht zu werden. Und nun sollen wir sogar diejenigen lieben, die uns feindlich gegenüberstehen? Geht Jesus da nicht zu weit? „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48). Das ist doch nun wirklich eine Überforderung! Wie sollen wir das denn schaffen? Beim Hören der Worte Jesu kann schon Panik aufkommen.
Wie hält uns Jesus mit seinem Gebot der Feindesliebe in der Lernzone und bewahrt uns vor dem Abrutschen in die Panikzone? Indem er uns daran erinnert, dass Gott über alle Menschen seine Sonne scheinen und seinen Regen fallen lässt.
Beides, Sonne und Regen, ist Sinnbild der voraussetzungslosen und unbedingten Nähe und Zuwendung Gottes. Gottes Liebe umfängt alle, auch uns. Was immer uns auch geschieht, wir sind in Gott geborgen. Genau daran zu glauben, kann uns den Mut geben, unsere Komfortzonen zu verlassen und andere nicht nach dem Motto zu behandeln: „Wie du mir, so ich dir!“ Wie gut wäre es, wenn immer mehr Menschen ihre Fantasie und ihren Verstand dafür einsetzten, Kreisläufe der Gewalt zu durchbrechen und neue Formen des Zusammenlebens und der Kooperation zu erproben. Lassen wir uns dazu von Gottes Armen tragen!
Jan Korditschke SJ