Den Gürtel der Liebe anlegen

„Umgürtet euch und macht euch bereit!“ Predigt von Jan Korditschke SJ am Buß- und Bettag 2022 zu Kol 3,12-14 und Joh 13,1-15

Aus Liebe zu Gürteln hatte meine Mutter eine ganze Sammlung von ihnen in ihrem Kleiderschrank. Auch mir ist mein Gürtel wichtig. Einerseits fühle ich mich ohne ihn unwohl, weil es mir sonst so vorkäme, als wäre ich nicht vollständig angezogen.

Andererseits würde mir sonst die Hose rutschen. Ohne Gürtel säße meine Kleidung nicht gut.

Gürtel im Ersten Jahrhundert

Zu Zeiten des Paulus im Ersten Jahrhundert war der Gürtel noch wichtiger als heute. Die Kleidung der meisten Menschen bestand nämlich aus schlichten Stoffbahnen, die um den Leib geschlungen wurden, oder aus sehr grob und weit geschnittenen einfachen Kleidern. Daher wickelten sich die Leute nach dem Anziehen ein langes Band aus Leder oder Stoff zum Teil mehrfach um den Oberkörper, um so ihre Kleidung zu fixieren. Ohne einen solchen Gürtel, der den Kleiderstoff raffte und für einen guten Sitz sorgte, wäre ihnen die Kleidung weggerutscht oder hätte ihnen am Leib gehangen wie ein nasser Sack. Der Gürtel hielt alles zusammen und machte das Outfit erst vollkommen, d.h. gab ihm die richtige Form. Somit war der Gürtel nicht bloß ein Kleidungsstück neben anderen, sondern das Kleidungsstück überhaupt.

Paulus greift auf das Bild von Kleidern und Gürtel zurück, wenn er über die Verhaltensweisen spricht, die christliches Leben ausmachen.

Getaufte sollen bestimmte „Kleider“ tragen, d.h. ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, nämlich: Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Geduld, gegenseitiges Ertragen und Vergebung (vgl. Kol 3,12-13).

Die sieben Verhaltensweisen

Hierbei handelt es sich um sieben Verhaltensweisen, die ein gutes Zusammenleben mit anderen Menschen ermöglichen. Überwiegend sind es Verhaltensweisen für den Fall, dass mein Gegenüber etwas falsch gemacht hat oder etwas nicht so hinbekommt, wie ich es gerne hätte. Mit den „Kleidern“, die Paulus aufzählt, gibt er mir Orientierung, wie ich reagieren soll, wenn andere sich daneben benehmen. Dann soll ich milde und geduldig sein und die betreffende Person ertragen oder ihr vergeben.

Nun meint Paulus aber, dass alle diese „Kleider“ – so schön sie eigentlich sind – für sich allein noch kein vollständiges Outfit ergeben. Es muss noch der Gürtel hinzukommen: das Band der Liebe, „das alles zusammenhält und vollkommen macht“ (Kol 3,14). Das bedeutet: Allen genannten Verhaltensweisen fehlt etwas Entscheidendes, wenn sie nicht aus Liebe geschehen.

Einen Menschen zu lieben bedeutet hier zum einen, die Motivation zu haben, das zu tun, was für diesen Menschen gut ist. Ziel meines Handelns ist das Wohl meines Gegenübers. Einen Menschen zu lieben bedeutet zum andern, die Fähigkeit zu haben, das zu tun, was für ihn gut ist. Reife Liebe ist kompetent in der Wahl ihrer Mittel. Eine liebende Person weiß, wie sich ihr Verhalten auf die Situation des Geliebten auswirkt.

Ohne solche Liebe sind die übrigen von Paulus aufgezählten Verhaltensweisen nicht echt. Zum Beispiel ist Freundlichkeit ohne Liebe eine bloße Masche, eine Taktik, um selbstbezogene Ziele zu erreichen. Denken Sie etwa an die Freundlichkeit, mit der ein Verkäufer Ihnen eine Ware anzudrehen versucht, die Sie eigentlich weder wollen noch brauchen.

Ohne Liebe sind die übrigen genannten Verhaltensweisen ein Krampf. Wenn ich z.B. versuche, aus bloßem Pflichtgefühl heraus mit anderen barmherzig umzugehen, „weil es sich eben für ein christliches Leben so gehört“, ich aber nicht mit dem Herzen dabei bin, dann werde ich nicht lange durchhalten. Bald ist es mit meiner Barmherzigkeit vorbei.

Ohne Liebe sind die übrigen genannten Verhaltensweisen unter Umständen gar nicht der Situation angemessen. Zum Beispiel ist nicht immer und gegenüber allen Menschen Geduld angesagt, sonst verkommt die Geduld zu falscher Nachgiebigkeit. Um zu tun, was für andere gut ist, muss ich manchmal auch Grenzen setzen – und zwar aus Liebe. Wer etwa Kinder erzieht, weiß worum es hier geht.

Der Gürtel der Liebe

Die entscheidende Frage ist nun: Wie komme ich an das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht? Wie erlange ich Liebe? Einerseits gilt, dass ich mich nicht einfach aus eigener Willenskraft heraus liebevoll machen kann. Ich kann die Gabe, andere zu lieben, nur von Gott als Geschenk empfangen. Andererseits kann ich schon mehr tun, als bloß die Hände in den Schoß zu legen. Ich kann mich für die Gabe der Liebe öffnen.

Eine Weise, dies zu tun, besteht darin, die Nähe liebevoller Menschen zu suchen und eingehend zu betrachten, wie solche Menschen mit anderen umgehen. Je tiefer ich mich von dem berühren und bewegen lasse, was ich da sehe, desto eher wird der Funke der Liebe von meinen Vorbildern auf mich überspringen. Ich werde instinktiv diejenigen nachahmen, die ich betrachte, und so lieben, wie sie lieben; denn wie Heinrich Spaemann einmal sagte: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“

Im Evangelium (Joh 13,1-15) wird uns die Liebe in Person vor Augen gestellt: Jesus Christus. Wir betrachten, wie er sich mit einem Leinentuch umgürtet, um den Seinen die Füße zu waschen (Joh 13,4). Wir betrachten, wie er im Grunde das tut, wovon Paulus spricht: sich das Band der Liebe anlegen.

In der Betrachtung dürfen wir uns vorstellen, wie wir uns zu denen dazusetzen, die Jesus nachfolgen. Wie bei den andern so kniet Jesus auch vor uns nieder, um uns die Füße zu waschen. Jesus will uns mit seiner Liebe berühren.

Mögen wir uns berühren lassen? Wenn ja, dann hilft uns dies, für andere zu tun, was Jesus für uns getan hat, nämlich Liebe zu schenken. Dann lassen wir uns leichter jenes Band anlegen, das alles zusammenhält und vollkommen macht – den Gürtel der Liebe.